Betriebliche Realitäten sind vor allen Dingen durch einen Aspekt gekennzeichnet: durch Komplexität! Sie ist es, die es Führungskräften so schwer macht, angemessen zu handeln.

  • Beispiel: In vielen Unternehmen wird der Wirtschaftsplanung größte Bedeutung beigemessen. Mit ihr wird versucht, das operative Geschäft des kommenden Haushaltsjahres und die mittelfristige Entwicklung des Unternehmens „in den Griff“ zu bekommen.

Unser menschlicher Geist tut sich indessen sehr schwer damit, komplexe, intransparente und dynamische Situationen zu verstehen und ihre Entwicklung vorherzusagen. Im Versuch, sie dennoch gedanklich zu durchdringen, greifen wir meist auf das zurück, was wir gut können: Wir befassen uns mit dem Detail und untersuchen es nach allen Regeln der Kunst.

  • In unserem Beispiel der Wirtschaftsplanung sind Führungskräfte und Controller zumeist wochen-, wenn nicht monatelang damit beschäftigt, Ist-Zahlen zu analysieren und daraus Plan-Zahlen (zumeist linear) abzuleiten. Mit Fokus auf die Eckwerte der obersten Leitung wird solange an den Zahlen „geschraubt“, bis das gewünschte Plan-Ergebnis unten rechts in der Tabelle resultiert.

Das ist der nachvollziehbare Versuch, die Komplexität der Geschäftsentwicklung durch Informationsbeschaffung zu bewältigen. Man hat das gute Gefühl, etwas Wichtiges zu tun: Analyse! Wer kennt nicht den Dreischritt aus 1. Ausgangsfragestellung – 2. Analyse – 3. Ergebnis! Die Annahme, über die Untersuchung von Details und mit der Erhebung von Einzeldaten zur Lösung eines Problems gelangen zu können, ist weit verbreitet. DIETRICH DÖRNER bezeichnet dieses Verhalten als „vertikale Regression“. Wer sich auf diese Weise ins Detail „vertieft“ und schon einmal in die Zahlentapeten von Controllern geblickt hat, wird die bittere Erfahrung teilen: Je weiter ich mich in den Wald hineinbegebe, umso wahrscheinlicher wird, dass ich ihn vor lauter Bäumen nicht mehr sehe. Viel zu selten resultiert aus der Datensammlung die erhoffte Klarheit; viel zu oft aber eine Informationsflut, die alles nur noch schlimmer macht.

Dies hat einen einfachen Grund: Wie schon das Sprichwort andeutet, wird durch eine akribische Befassung mit dem Detail der Blick auf die Vernetzung der Systemkomponenten verstellt. Die entscheidenden Informationen, wie die Dinge zusammenhängen und sich wechselseitig beeinflussen, bleiben unberücksichtigt. Erst mit dem Erkennen von Zusammenhängen und Wirkmechanismen gelangt man zu den relevanten Informationen über die “Natur der Sache”. Und nur auf diesem Wege lässt sich die unhandliche und unüberschaubare Datenmenge auf das Wesentliche reduzieren.

Doch wie kommt man dem Wesentlichen auf die Spur?

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Am Beispiel der Grafik, die in diesem Blogbeitrag zu sehen ist, soll dies veranschaulicht werden. Betrachten Sie das Bild aus großem Abstand oder blinzeln Sie mit den Augen, so erkennen Sie eine Gestalt: einen Mann in dunklem Anzug, weißem Hemd und mit roter Krawatte. Er trägt einen Hut auf dem Kopf. Diesen paradoxen Effekt beschreibt der Kybernetiker FREDERIC FESTER in seinem Bericht an den Club of Rome unter dem Titel: „Die Kunst vernetzt zu denken“: „Während Unschärfe (fuzziness) zur Mustererkennung führt, gibt die noch so detaillierte Betrachtung der vorhandenen Quadrate nichts Vergleichbares her.“ (S. 54)

Jedes einzelne Pixel der Grafik kann man aus der Nähe und ganz genau betrachten, es vermessen und analysieren; man kann die Farbwerte der Pixel bestimmen und sie zueinander in rechnerische Beziehung setzen. Aber selbst wenn man das mit Akribie und größter Genauigkeit betreibt: Das Ergebnis wird nicht besser. Die Detailanalyse ist einfach die falsche Methode, um sich die zentrale Bildinformation zu erschließen. Erst wenn man Abstand nimmt und die Funktionen der Systemkomponenten erkannt hat, ihre Rolle als Hut, als Krawatte oder als Hintergrund, gelangt man zur alles entscheidenden Erkenntnis. VESTER: „Um die Wirklichkeit als Ganzes zu erfassen, genügt es nicht, nur die Details aufzunehmen. So erfahren wir zwar sehr vieles über diese Details, aber nichts über das System als solches“ (S. 55).

KREATIVITÄT

Bei der Untersuchung von Einzelheiten arbeitet unser Gehirn analytisch und sequentiell. Rechtshänder tun dies vor allen Dingen mit der linken Hemisphäre ihrer Großhirnrinde. Lassen wir hingegen Unschärfe zu und überblicken damit das Ganze, werden andere Neuronenfelder (insbesondere auf der rechten Hemisphäre) aktiviert, die intuitiv und simultan arbeiten. Statt senkrechter und waagerechter Linien registrieren sie Kurven und Flächenverhältnisse, Informationslücken werden ausgefüllt und fehlende Teile ergänzt. Durch unsere Fähigkeit zur Mustererkennung wird das große Ganze schließlich sichtbar. Erkenntnisse erlangt man also also v.a. durch eine Datenreduktion auf das Wesentliche, nicht aber in der beliebigen Verbreiterung der Datenbasis.

Für die betriebliche Praxis fordert VESTER: „Datenreduktion auf die wesentlichen Schlüsselkomponenten und Vernetzung dieser Komponenten“ (S. 55). Das ist der Grund, weshalb man aus komplexen betrieblichen Situationen immer wieder heraustreten und den Abstand zu ihnen suchen sollte. Es ist von größtem Nutzen, aus der Distanz auf Situationen, Probleme und Herausforderungen zu blicken.

  • Am Beispiel der Wirtschaftsplanung wird deutlich, wie wichtig es ist, auf Schlüsselkomponenten und ihre Wechselwirkungen zu achten. Man kann das kommende Haushaltsjahr hervorragend bis auf Nachkommastellen genau planen und man kann es mit den ausgefeiltesten Instrumenten tun. Am ersten Januar wird diese Planung aber bereits obsolet sein, wenn systemrelevante Aspekte bei der Planung außer Acht gelassen worden sind. Ändert sich nur eine Rahmenbedingung für ein Geschäftsfeld substantiell, hat dies Auswirkungen auf viele andere Systemkomponenten. Dann führt eine noch so akribisch vorgenommene lineare Fortschreibung des bisherigen Verlaufs zu falschen Prognosen.

Es sollte klar geworden sein, dass die relevanten Einflussfaktoren nur dann identifiziert werden können, wenn man bereit ist, den Blick zu heben. Dazu ist gelegentlicher Abstand vom operativen Tagesgeschäft unabdingbar. Aus diesem Abstand heraus muss erkannt, beurteilt und entschieden werden, welches die relevanten Steuerungsgrößen für ein Unternehmen sind. Es geht darum, sich über die systemischen Zusammenhänge klar zu werden, in die es eingebunden ist. Dann kann man sich Unschärfe bei den für die Steuerung weniger relevanten Faktoren ohne Probleme leisten. Entweder indem man sich bei ihnen mit weniger Genauigkeit zufrieden gibt oder indem man sie gleich ganz außer Acht lässt. Es geht um die Konzentration auf das Wesentliche, darum die richtigen Dinge zu tun. Und nicht darum, irgendwelche Dinge sehr genau und sehr richtig zu tun.

Vielleicht irritiert Sie das vermeintlich grüne Gesicht der Gestalt? Pate für das verpixelte Bild stand ein berühmtes Gemälde von René Magritte, dem großen belgischen Surrealisten. Nicht ganz zufällig! Denn es enthält die zentrale Botschaft dieses Blogbeitrags noch ein zweites Mal: Mit Abstand mehr Überblick!

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Literaturhinweise:

DOBELLI, Rolf                  Die Kunst des klaren Denkens, München: Hanser 2011.

DÖRNER, Dietrich           Die Logik des Misslingens (13. Auflage), Reinbek: Rowohlt 2003.

KAHNEMAN, Daniel       Schnelles Denken, langsames Denken (6. Auflage), München: Siedler 2012.

VESTER, Frederic           Die Kunst vernetzt zu denken, Bericht an den Club of Rome (6. Aufl), München: DTV 2007.